Eigentlich ist Hans-Peter Kuck in Berlin zu Hause. Supermärkte, Apotheken, Bäckereien, Bars, Ärzte und vieles mehr: Alles, was es im Alltag braucht, gibt es dort zu genüge, meist wenige Gehminuten entfernt. Jetzt hat er seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt vorübergehend verlagert von Deutschlands größter Stadt auf ein Schloss in einem überschaubaren Dorf. Sein Ziel: Er und seine Mitstreiter:innen wollen das Schloss Blumenfeld und die Ortschaft in Baden-Württemberg zu neuem Leben erwecken.
Hans-Peter Kuck und seine Freundin wollten etwas Neues ausprobieren. Im ersten Corona-Jahr tourten sie mit ihrem VW Bus durch Süddeutschland. Im Frühjahr dieses Jahres lasen sie dann einen Artikel über das Projekt Summer of Pioneers. Die Neugierde war geweckt und die Bewerbung schnell geschrieben. „Wir haben uns gefragt, wie es ist, das Dorfleben nachhaltig zu gestalten“, sagt Kuck.
Chance für die Gemeinde Tengen
Sechs Monate lang leben und arbeiten die Teilnehmenden des Summer of Pioneers auf dem Schloss. Unter den 20 Kreativ- und Digitalschaffenden sind unter anderen Freiberufler:innen, Eventmanager:innen, Unternehmensberater Kuck und seine Freundin, die für ein soziales Start-Up tätig ist. Sie wohnen in WGs, teilen sich Küche und Badezimmer und können verschiedene Arbeitsräume inklusive WLAN nutzen – für einen monatlichen Beitrag von 150 Euro. Im Gegenzug erwartet die Stadt Tengen als Gastgeberin, dass die Teilnehmenden ihre Ideen und ihr Engagement einbringen, um Schloss Blumenfeld und Blumenfeld als Ortsteil wiederzubeleben.
Die Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land wächst bei vielen Menschen. Die Corona-Pandemie hat dem Ganzen noch einen Schub gegeben. Das zeigt auch das Interesse am Summer of Pioneers in Tengen, den es auch in Altena und Homberg gibt. Etwa 80 Bewerber:innen aus ganz Deutschland und der Schweiz meldeten sich auf die 20 verfügbaren Plätze. Inzwischen wurde das Projekt etwas geöffnet, so dass nun monatsweise weitere Pioniere in das traditionsreiche Gemäuer einziehen können.
Die Gemeinde Tengen liegt im Süden Baden-Württembergs. Der Bodensee und auch der Schwarzwald sind in greifbarer Nähe. Im September schieben sich Wohnwagen und Wohnmobile über die Straßen der ländlichen Region. Die Natur, die Ruhe und die Entschleunigung sind die großen Pluspunkte der Gegend.
Schloss als Identifikationssymbol
Das Schloss ist für die Blumenfelder der Mittelpunkt des Dorfes. Die Häuser der Anwohner:innen grenzen direkt daran. Sie haben eine enge Bindung zu ihrem Schloss. Es ist ein Identifikationssymbol. Als das Dach in die Jahre gekommen war, packten die Anwohner:innen kurzerhand ehrenamtlich an. Zuletzt war hier ein Altenheim untergebracht. Vor einigen Jahren wurde auch das Altenheim geschlossen. Mehrere Ideen zur weiteren Nutzung waren nicht tragbar. Jahrelang stand das Schloss leer. Das ohnehin schon verschlafene Dorf verlor seinen letzten Anker.
Seit dem Einzug der Pioniere im Juni erwacht das Schloss aus seinem Dornröschenschlaf. Viele Räume wurden neu ausgestattet. Es gibt verschiedene Coworking-Räume und Besprechungsräume. In einer Etage befindet sich eine Kunstausstellung. Es gibt einen Kinosaal. Andere Räume können noch neu entwickelt werden.
„Wir möchten verschiedene Ideen für die weitere Nutzung direkt ausprobieren“, sagt Marian Schreier, der Bürgermeister der 4.700-Einwohner-Gemeinde Tengen. „Dabei soll die Bevölkerung direkt eingebunden werden.“ Ziel des Projektes ist, dass sich die Teilnehmenden mit der Anwohnerschaft vernetzen. Dabei sollen die Chancen der Digitalisierung für den ländlichen Raum genutzt werden. In Tengen bedeutet das: digitales Arbeiten und digitale Partizipationsmöglichkeiten durch Bürgerbefragungen.
Zur Halbzeit des Projekts ist Schreier positiv gestimmt. „Die Bevölkerung konnte wieder aktiviert werden“, sagt er. „Die Bürgerinnen und Bürger sind froh, dass wieder Leben eingekehrt ist.“
Stammtisch im Schlosscafé
Jeden Freitag gibt es einen Stammtisch, den die Pioniere für die Blumenfelder im Schlosscafé organisieren. Unternehmensberater Kuck hat den Stammtisch mitinitiiert und den Leuten vor Ort wieder eine Anlaufstelle gegeben. Denn eine Kneipe gibt es nicht in Blumenfeld, geschweige denn ein Kulturangebot, Bäckereien oder einen Supermarkt.
Nach so einem informellen Treffpunkt haben die Blumenfelder lange gedürstet. „Sie nehmen das Angebot auf wie ein trockener Schwamm das Wasser“, sagt Kuck. Bis zu 15 Menschen kommen freitags vorbei, lernen sich kennen, tauschen sich aus und wachsen zusammen. „Wir wollen nicht im Schloss sitzen und die Tür zu machen. Wir wollen die Tür aufmachen“, sagt der 38-Jährige. Von montags bis freitags hat es sich Kuck in einem der Coworking-Räume eingerichtet. Er kann seine Arbeit vom Computer aus steuern. Auch Telefonkonferenzen kann er von dort aus führen. Abends und am Wochenende bringt er sich in die Projekte ein.
Die Pioniere kommunizieren hauptsächlich über digitale Tools. Hier werden neue Ideen eingestellt, Projekte geplant und Zuständigkeiten geklärt. Das macht den Austausch zum einen einfach. Doch sobald ein Projekt abgeschlossen ist, verschwindet es vom Board und damit aus der Sichtbarkeit. Community-Managerin Uta Krauss hat deshalb im Projektraum eine Pinnwand mit den Meilensteinen aufgestellt.
Viele Angebote aufgesetzt
Stolz liest sie die Post-Its vor, die darauf kleben: Open-Air-Kino, Kunstausstellung, Podcast Schlossgeschichten, Website, Handwerker-Umtrunk, Konzertabend und so weiter. Auch das Schlosscafé ist inzwischen wieder geöffnet – zumindest an den Wochenenden. Am Tag des offenen Denkmals kamen 400 interessierte Menschen auf das Schloss. Die Pioniere stöberten in der Schlossgeschichte und entwickelten gemeinsam mit Anwohner:innen eine Besichtigungstour. „Wir machen das mit Leidenschaft und dürfen stolz sein auf das, was wir bereits erreicht haben“, sagt die Künstlerin und Freiberuflerin, die unter anderem für Kunden Social-Media-Accounts betreut, darunter den Instagram-Account des Projekts.
Bürgermeister Schreier hat schon früh auf die Karte Digitalisierung gesetzt. Bei seiner Wahl zum Bürgermeister 2015 setzte er schon auf digitale Aktivierungsmöglichkeiten. Und sorgte für Furore, weil er damals im Alter von 25 Jahren zu Deutschlands jüngstem Bürgermeister gewählt wurde.
Seit 2017 ist Tengen Modellkommune für Open Government und digitalisiert zum einen Prozesse innerhalb der Verwaltung wie die elektronische Ratsarbeit. Auch die Verwaltungsdienste sollen zunehmend digital angeboten werden. „Die Digitalisierung macht nur Sinn, wenn man es vom Bedürfnis und nicht allein durch die Technik getrieben denkt“, ist Schreier überzeugt.
Was passiert, wenn das Projekt Ende des Jahres ausläuft? Schreier verrät, dass aktuell über eine Verlängerung nachgedacht wird. Vorstellbar ist auch, dass einige Pioniere in Tengen dauerhaft sesshaft werden. Einige Pioniere spielen jedenfalls mit dem Gedanken.
Pionier Kuck setzt vor allem darauf, dass die Blumenfelder die Initialzündung aufnehmen und weiterführen. „Wir benötigen Menschen, die das Ganze am Laufen halten. Dazu möchten wir sie frühzeitig befähigen.“ Hier seien Pioniere und Blumenfelder auf einem guten Weg.
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Titelfoto: Fabian Wahl/www.salt-content.de
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