Progressive Provinzen: „Jeder kann dazu gehören“

Manche Kommunen verschlafen den Wandel, andere nehmen ihn aktiv an und wappnen sich für die Zukunft. Progressive Provinzen galten lange als vereinzelte Leuchttürme. Der Leiter des Zukunftsinstituts in Berlin, Daniel Dettling, erkennt inzwischen einen regelrechten Trend.

Im Interview berichtet er darüber, wie ländliche Räume zu progressiven Provinzen werden können und welche Impulse eine neue Bundesregierung setzen sollte.

Welche Arten von Provinzen gibt es?

Daniel Dettling: Es gibt zwei Arten von Provinzen. Die einen ziehen sich zurück und erleiden Veränderungen und Wandel. Sie beklagen, dass bestimmte Umstände für ihre Misere verantwortlich sind: Die Digitalisierung, die Globalisierung, die Urbanisierung. Die anderen sehen sich als Progressive Provinz und Zukunftsregion, die den Wandel annehmen und gestalten möchten. Progressive Orte gehen in die Offensive und sind Veränderungen gegenüber positiv eingestellt.

Was macht eine progressive Provinz aus?

Dettling: In der Regel gibt es fünf Erfolgsfaktoren für eine progressive Provinz: Es gibt lokale Visionäre wie Bürgermeister:innen, Bürger:innen oder lokale Initiativen, die das Dorf oder die Region mit einer gemeinsamen Vorstellung nach vorne bringen möchten. Zweitens lebt die progressive Provinz von der Architektur mit attraktiven Orten und Gebäuden. Drittens benötigt man eine Offenheit nach außen, wozu Partnerschaften und eine gewisse Anschlussfähigkeit gehören. Den vierten Punkt kann man unter Branding oder Storytelling zusammenfassen: Progressive Provinzen benötigen eine eigene Geschichte mit Alleinstellungsmerkmalen, die den Unterschied zu anderen Kommunen ausmachen. Der fünfte Faktor ist ein regionales Selbstbewusstsein.

Sprechen wir hier nur von wenigen, medial wirksamen Beispielen oder einem Trend?

Dettling: Es gibt zwar kein Ranking zu progressiven Provinzen. Dennoch beobachten wir einen Trend. Es sind vor allem junge Familien, Kreative und Start-Ups, die aus den Metropolen heraus ziehen. Viele Regionen erfinden sich neu. Der Hauptteil befindet sich im Speckgürtel um Metropolregionen. Zum Beispiel entstehen im Umkreis von einer Stunde um Berlin aktuell die meisten Coworking-Spaces. Anfangs sind es wenige Orte, plötzlich wird es eine Bewegung.

Haben alle ländlichen Regionen in Deutschland die Chance, von diesem Trend zu profitieren oder eher nur diejenigen, die sich zumindest in der Nähe von Ballungsräumen befinden?

Dettling: Jeder kann dazu gehören. Es gibt auch Provinzen in der Peripherie, die entstehen, weil auch im Speckgürtel von Ballungsräumen die Immobilienpreise angezogen haben. Inzwischen spricht man hier vom Sportgürtel, der elastischer als der Speckgürtel ist. Außerdem verschmelzen Dörfer und Städte zunehmend. Die Menschen in den Dörfern leben immer urbaner, die in den Städten immer dörflicher. Die Kiez- oder Veedelkultur sowie das Urban Gardening sind Beispiele für eine zunehmende „Verdörflichung“ der Stadt. In 10, 15 Jahren macht es sicherlich keinen mentalen Unterschied mehr, ob man in einer Stadt oder auf einem Dorf lebt.

Junge Menschen verlassen die Provinz, um der dörflichen Enge zu entkommen. Hat sich hier etwas verändert?

Dettling: Die Großstädte sind bisher vor allem durch den Zuwachs junger Leute gewachsen. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. In einer Umfrage haben wir herausgefunden, dass junge Leute im Alter von 14 bis 19, später, wenn sie 30 Jahre alt sind, häufig eher im Dorf wohnen wollen als in einer Großstadt. Es wird sich durch Corona noch mehr verändern. Die großen Städte wie Hamburg, Frankfurt oder Stuttgart haben in den letzten Jahren netto an Bewohnern verloren. Es sind mehr Menschen aus den Städten herausgezogen als zugezogen.

Welche Vorteile haben Kleinstädte, Dörfer und Regionen gegenüber der Großstadt?

Dettling: Das ist vor allem die räumliche wie soziale Nähe. Es ist alles nah beieinander und überschaubar, die Wege sind kürzer. Das soziale Engagement ist in ländlichen Regionen deutlich ausgeprägter. Das Vereinsleben, das Engagement in der örtlichen Feuerwehr und die Volkshochschulen haben dort eine große Bedeutung. Auf dem Land lebt man weniger einsam, sondern mehr gemeinsam.

Was ist mit jenen, deren Beruf nicht digital ausführbar ist? Bleibt die Rückkehr auf das Land bestimmten Milieus vorbehalten?

Dettling: Grundsätzlich ist es eher die Mittelschicht, die auf das Land zieht. Es sind vor allem junge Familien, die sich wegen des Nachwuchs vergrößern möchten und das Angebot in der Metropole zu teuer ist. Menschen, die einen Job in der Großstadt haben und sich die Wohnung weiterhin leisten können, bleiben hingegen gerne dort wohnen.

Welche Impulse könnte eine neue Regierung nach der Bundestagswahl setzen, um den ländlichen Raum voranzubringen?

Dettling: Wir benötigen neue Formen des Dialogs. In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Städtepartnerschaften geschlossen. Was wir jetzt benötigen, sind Raumpartnerschaften innerhalb Deutschlands. Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern könnten Kooperationen eingehen mit Räumen unter 20.000 Einwohnern. Daraus kann etwas Spannendes werden wie neue regionale Wertschöpfungsketten: Der Landwirt produziert Bio-Produkte und könnte in der Partnerstadt seine Abnehmer:innen finden. Städte und ländliche Räume könnten voneinander lernen und voneinander profitieren. Ein neues Bund-Länder-Programm könnte den Trend befördern.

Das Interview führte Fabian Wahl.

Titelfoto: Pixabay / StockSnap 7/ CC0

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