Heidrun Wuttke ist wieder unterwegs. In ihrem Kleinwagen kurvt sie über die Landstraßen von der Kreisstadt Höxter ins Dorf Ovenhausen. Ovenhausen nimmt als eines von 30 beteiligten Dörfern am aktuellen Digitalisierungsprojekt Dorf.Zukunft.Digital teil – und ist eines der Vorreiterdörfer. Wuttke will sich als Projektleiterin einen Überblick verschaffen.
In Ovenhausen wartet bereit Kreisheimatpfleger Hans-Werner Gorzolka. Seit ihrem letzten Besuch hat sich wieder einiges getan. Im Pastorengarten ist eine Begegnungsstätte für Dorfbewohner:innen, Familien und Pilger:innen entstanden. Kleine Holzhütten laden zum Verweilen ein. Gorzolka zeigt mit dem Finger dorthin, wo demnächst vier Hochbeete und Spielgeräte für Kinder stehen sollen. Das Schwarze Brett des Dorfes wird mit einem digitalen Info-Point ergänzt.
Dorf bildet eigene Redaktion
„Dann können die Dorfbewohner:innen hier alle Neuigkeiten nachlesen“, erklärt Gorzolka. Gemeint sind die Neuigkeiten, welche das achtköpfige Redaktionsteam des Dorfes auf die Dorf-Homepage ovenhausen-digital.de stellt oder welche die Bewohner:innen über die Dorffunk-App verbreiten.
Gorzolka gehört zum Redaktionsteam. Erst am Vortag hatte er sich mit den anderen Dorfreporter:innen zur Redaktionssitzung im Pfarrheim getroffen. Sie berichten über Themen wie das letzte Schützenfest, die Vorbereitungen des örtlichen Karnevalsvereins und kündigen Termine wie die Diskussion zum Ausbau der Windenergie im Kreis Höxter an.
Die Dorffunk-App hat darüber hinaus noch die Möglichkeit für Annoncen und Gesuche oder einen zwanglosen digitalen Plausch. Bürger:innen können hierüber auch Hilfe anbieten. „Es gibt eine Kümmerer- und Fürsorgekultur im Ort“, sagt er. Auch die Feuerwehr und Vereine könnten hierüber die Menschen erreichen. In Zeiten von WhatsApp-Gruppen und verschiedensten Informationsangeboten im Internet erzielt die Dorffunk-App eine beträchtliche Abdeckung: 700 von 1.050 Dorfbewohner:innen nutzen das „Dorf für die Hosentasche“, wie Wuttke es nennt.
Einst abgeschnitten, jetzt wieder vernetzt
Dabei profitieren auch jene Dorfbewohner:innnen, die so abgelegen wohnen, dass sie von der analogen Kommunikation bereits abgeschnitten waren. Denn bei der Verteilung von Amtsblättern oder Anzeigenblättchen blieb ihr Briefkasten häufig leer. Den Umweg zu ihnen wollte niemand in Kauf nehmen. Nun erhalten sie die Infos über die Website oder die App per Echtzeit.
Das Ensemble um Pfarrhaus, Pfarrheim und Pastorengarten ist eine Art Keimzelle für die Digitalisierung im Dorf. Alles dicht beieinander und an der zentralen Dorfstraße gelegen, bildet es auch geographisch den Dorfmittelpunkt. „Jedes Dorf benötigt eine zentrale Anlaufstelle, einen sozialen Mittelpunkt“, sagt Gorzolka, der auch Kirchenvorstand ist. Das Pfarrheim wird fast täglich genutzt: Strickgruppen treffen sich. Die Blaskapelle probt. Bis vor Kurzem wurden hier dienstags Corona-Tests durchgeführt.
Im gegenüberliegenden Pfarrhaus treffen zwei Zeitalter aufeinander: das analoge und das digitale. Die Einrichtung mit speckigen Polstermöbeln, bestickten Tischdecken und edlem Kaffeeservice erinnert an die 50er, 60er Jahre. Hier ist die Wirkstätte von Martina Werdehausen, die sich für die Caritas Konferenz engagiert und mit anderen die Klönstube ehrenamtlich betreut. In heimeliger Atmosphäre erklärt die ausgebildete Digitallotsin bei Kaffee und Keksen das Internet.
Niederschwellige Angebote
„Natürlich gab es in der älteren Generation zunächst Vorbehalte“, erinnert sie sich. Deswegen habe man extra niederschwellig angefangen. Auf den Tablets konnten sich die Teilnehmenden via Google Earth an den Ort ihrer Träume beamen. „Sie haben gelernt, wie man für eine Reise im Internet recherchiert. Damit haben wir sie angefixt und gezeigt, dass Digitalisierung cool ist.“ Auch der digitale Nachlass und Online-Shopping sind Themen, die sich die Teilnehmenden in vertrauter Runde aneignen. Zur Ausstattung in der Klönstube gehören Beamer, Leinwand, Tablets und Laptops, die sich außerdem jede:r ausleihen kann.
Nach den Worten von Projektleiterin Wuttke basiert das Digitalisierungsprojekt auf zwei Säulen. Zum einen gibt es ehrenamtliche Dorfgemeinschaften, die bedarfsgerecht digitale Anwendungen testen. Zum anderen werden die Bürger:innen in digitaler Kompetenz geschult und geben ihr Wissen als Multiplikator:innen weiter.
Das Projekt gilt bundesweit als eine Blaupause. Von der Initiative „Digital für alle“ wurde Dorf.Zukunft.Digital im vergangenen Jahr mit dem Preis für digitale Teilhabe ausgezeichnet. Der Preis wurde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreicht, der sich auch mit mehreren Bürger:innen aus Ovenhausen per Video-Chat über die digitalen Werkzeuge austauschte.
Werdehausen berichtet, wie die örtliche Caritas Konferenz jahrelang keine neuen Mitglieder hinzugewinnen konnte. „Wir sind jetzt moderner geworden“, sagt sie. Und in kurzer Zeit meldeten sich zehn neue Mitglieder an. Das jüngste Mitglied ist 26 Jahre alt.
Im Kreis Höxter schieben Wuttke und die anderen Projektbeteiligten eine Idee nach der anderen an. Dabei basteln die Dorfgemeinschaften an der digitalen Dorfchronik. Ältere Menschen sollen ihre Erinnerungen an früher teilen und so ein digitales Erbe schaffen.
Ausprobieren als Philosophie
Nicht alle Ideen überleben. In Ovenhausen hatten sie beispielsweise eine Mitfahrbank getestet. Wer mit nach Höxter genommen werden wollte, konnte dort Platz nehmen und auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Doch Platz nahmen dort nur wenige. „Natürlich muss man auch mal konstatieren, dass bestimmte Ideen gut gemeint sind, aber nicht angenommen werden“, sagt Wuttke. „Dafür sind wir schließlich ein Erprobungsraum.“
Schon 2016, als die ersten Flüchtlinge nach Ovenhausen kamen, wurde ein erster, freier Hotspot in der Dorfmitte installiert. Heute gibt es fünf Punkte, damit die Bandbreite in der Dorfmitte immer ausreicht. „Der Pastor hat jetzt 15 Mbit am Altar“, scherzt Gorzolka.
Allerdings wurde der Gemeindepfarrer aus Ovenhausen bereits vor Jahren versetzt. Er hat also nicht mehr mitbekommen, wie Gorzolka und Co. die Kirchen und Kapellen in Ovenhausen mit einer 360 Grad Ansicht ausgestattet haben. So können Wanderer entlang des Pilgerweges und andere Interessierte per QR-Code einen Blick hinein werfen und Orgelmusik lauschen, wenn die Türen verschlossen sind.
Nicht alle beteiligten Dörfer schaffen es, die Projekte langfristig am Leben zu halten wie Ovenhausen. Oft hängt es von engagierten Personen ab. Durch die Corona-Pandemie ist obendrein die Bindung verloren gegangen.
Pensionär Gorzolka findet, dass dem ländlichen Raum mehr zugetraut werden darf. „Wir leben nicht hinter dem Mond“, sagt er. Das Engagement vieler Dörfer im Kreis Höxter ist für ihn ein Beispiel für die „Renaissance des ländlichen Raums“.
Kreisverwaltung Höxter steigt ein
Im Kreis Höxter waren bislang vor allem die Volkshochschulen und die Wirtschaftsförderung für die Digitalisierungsprojekte verantwortlich. Die nächsten Projekte liegen in den Händen der Kreisverwaltung. Die Volkshochschulen und andere Einrichtungen fungieren dann als Kooperationspartner.
Jene Projekte, die bereits erfolgreich in Ovenhausen und den anderen Dörfern erprobt wurden, sollen nun flächendeckend auf möglichst alle 120 Dörfer und 10 Kommunen ausgerollt werden. Zudem soll es in ausgewählten Ortschaften im Projekt „Smarte Nahversorgungsräume der Zukunft“ einen sogenannten Späti für das Dorf geben. Dort sollen sich täglich zu jeder Zeit Bürger:innen mit regionalen Produkten selbstständig versorgen können.
Die nächste Idee steht schon fest: Im Rahmen des Pilotprojekts Dorf.Gesundheit.Digital wird die smarte Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum erprobt. In den Dorfgemeinschaftshäusern wird ein barrierefreier Gesundheitskiosk eingerichtet. Denn dieser dient dann als zentrale Anlaufstelle für die Erprobung digitaler Gesundheits- und Pflegeangebote. Dann soll es um Videosprechstunden mit Ärzten, Pflegeroboter, elektronische Patientenakten, das eRezept oder Gesundheits- und Senioren-Apps gehen. Wuttke, Gorzolka und Werdehausen sind sicherlich mit dabei.
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Titelfoto: Fabian Wahl/www.salt-content.de
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