In unserer Reihe „Wenn ich Bürgermeister*in wäre…“ schreiben engagierte Menschen über kommunale Themen, die für sie von großer Bedeutung sind. Wie würden sie diese Themen in der Funktion einer Bürgermeisterin oder eines Bürgermeisters umsetzen? Wibke Ladwig betont die Bedeutung von Vernetzung – digital und offline. Nur wenn ein Ort, und vorneweg auch die Bürgermeisterin, sich klug mit anderen vernetzt und offen für Neues ist hat er eine erfolgreiche Zukunft vor sich.
Ich musste nachschlagen. Damit fing es an. Denn ich musste mir eingestehen, das mir auf Anhieb nicht klar war, worin genau die Aufgaben und Funktion einer Bürgermeisterin bestehen. Gewiss habe ich das damals im Politikunterricht gelernt – doch der liegt nun eine Weile zurück.
Bei der Bundeszentrale für politische Bildung finde ich sogar eine Erklärung in einfacher Sprache: „Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin trifft zusammen mit dem Rat der Stadt politische Entscheidungen.“ Und: „Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin vertritt die Stadt oder Gemeinde auch nach außen.“ Mein Vater war selbst lange Jahre im Stadtrat tätig und ich erinnere mich, dass er damals manchmal beim Abendbrot von Entscheidungen über Schulen, Schwimmbäder oder den Straßenbau erzählte. Vor seinem Tod sprach ich mit ihm über einen Bekannten, der sich über Jahrzehnte hinweg als Ortsvorsteher für sein Dorf gleich in unserer Nachbarschaft eingesetzt hat. Mit Erfolg: Aus einer bescheidenen Ortschaft wurde ein lebendiges Dorf mit einem Dorfgemeinschaftshaus in einer ehemaligen Brennerei, Auszeichnungen im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ und einer tatkräftigen Bürgerschaft. Dieser Ortsvorsteher hatte eine Vision, die er mit Überzeugungskraft und Engagement umsetzte. Nicht allein, sondern zunehmend mit Unterstützung der Dorfgemeinschaft.
Eine Vision für den Ort
Mich zu fragen, was ich als Bürgermeisterin vorantreiben würde, wenn sich die Möglichkeit böte, ist mir mithin nicht fremd. Und was ich von meinen Vorbildern gelernt habe: Man benötigt Vorstellungskraft. Eine Vision zu haben, wird oft belächelt. Man solle mit Visionen zum Arzt gehen, wird gern zitiert. Doch ohne eine Vorstellung dessen, auf was man hinarbeitet, verwaltet man rasch nur noch das fällige Tagesgeschäft. Wenn ich also Bürgermeisterin wäre, schüfe ich Räume, in denen ich mich mit anderen Menschen fernab vom Tagesgeschäft und Entscheidungsdruck über Idealvorstellungen für unseren Ort austauschen könnte.
Schon länger frage ich mich, was manche Orte lebendig und lebenswert macht und warum, oft nicht weit entfernt, andere Orte vor sich hinsiechen oder gar sterben. Nun gibt es dafür vermutlich viele Faktoren und nicht alle kann man beeinflussen. Aber ich nutze diese Gelegenheit, hier einige meiner Überlegungen in die Welt zu setzen.
Gibt es Orte im Alltag, an denen sich die Nachbarschaft bereits mehr oder weniger regelmäßig trifft? War lange die Kneipe ein traditioneller Treffpunkt, wo man sich traf und miteinander über das Tagesgeschehen vor Ort sprach, so nimmt die Anzahl der Kneipen in manchen Regionen Deutschlands seit Jahren ab. Das alltägliche Freizeitverhalten der Menschen hat sich verändert: Familienleben, Sport und Medienkonsum nehmen mehr Raum ein. Wo trifft man sich also, wenn nicht auf der Straße? Beim Bäcker? Beim Einkaufen? Im Wartezimmer? Gibt es ein reges Vereinsleben? Grüßen sich die Menschen auf der Straße?
Ein Ort ist mehr als nur eine Postleitzahl
Und warum ist das wichtig? Wenn alle Einwohner*innen eines Ortes nur noch mit dem Auto in ihre Garage oder in ihren Carport fahren und sich von dort aus umgehend in ihr von Gabionen abgeschirmtes Eigentum zurückziehen oder eilends die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich schließen, geht der Gemeinsinn rasch verloren. Aber ohne Gemeinsinn entsteht selten ein positiv aufgeladenes Engagement für die Ortsgemeinschaft, das ohne Ehrenamt kaum denkbar ist. Eine Ortsgemeinschaft ohne eine lebendige Nachbarschaft existiert dann vielleicht nur im Sinne einer gemeinsamen Postleitzahl.
Die Wege zur Arbeit werden immer länger und Pendeln selbstverständlicher. Wenn also die Mehrzahl der Berufstägigen morgens den Ort verlässt und erst am Abend wieder heimkehrt, ist fraglich, wer über Tag im Ort in Läden oder auf dem Markt einkauft oder ins Café geht. Das beeinflusst die Infrastruktur eines Ortes nachhaltig. Auch hier erfordert es Ideen und Visionen, wie man wieder Leben in den Ort bringt.
Als Bürgermeisterin würde ich herausfinden wollen, wohin eigentlich die Einwohner*innen zum Arbeiten fahren. Und ob es nicht eine Lösung wäre, eine Art Coworking-Space oder Dorfbüro zu schaffen, in dem Pendler*innen einen Arbeitsplatz oder ein Büro finden. Die Kosten könnte man sich mit den Arbeitgeber*innen teilen, wenn diese sich vom Gedanken einer Anwesenheitspflicht befreien können. Home Office ist nicht für jeden geeignet, schon allein aufgrund oft fehlender Technik und Ausstattung. Als Bürgermeisterin wäre mir eine gute Anbindung ans Internet mindestens so wichtig wie eine gute Anbindung im Sinne einer zukunftsgerichteten Mobilität, in der das Auto aus dem Mittelpunkt der Überlegungen rückt.
Nun ist ein externes Büro ebenso wenig wie Home Office keine Lösung für jemandem im Einzelhandel. Aber vielleicht entstehen im Ort selbst wieder Einzelhandelsgeschäfte, wenn sich über Tag wieder (mehr) Menschen im Ort aufhalten und dort arbeiten, wo sie leben? Das wäre nicht nur aus Umweltschutzgründen und im Sinne einer Verkehrswende sinnvoll, sondern trüge zur Entlastung von Menschen und zur Belebung des Alltags im Ort bei.
Eine Ortsgemeinschaft braucht dritte Orte
Es braucht außerdem Orte und Anlässe, die sich positiv auf eine Ortsgemeinschaft auswirken: Vom jährlichen Fest bis hin zu neutralen und am besten nicht-kommerziellen Orten im Alltag, wo man gezielt oder zufällig zusammentrifft. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit öffentlichen Bibliotheken und schilderte hier vor einer Weile deren Potenzial, insbesondere für den ländlichen Raum. Dieses Potenzial eines Ortes der Teilhabe, einer demokratischen Utopie, wird von der Kommunalpolitik oft übersehen. Auch Volkshochschulen, Museen oder andere Kultur- und Bildungseinrichtungen können geeignet sein, um moderner Marktplatz einer Ortsgemeinschaft zu sein, ein sogenannter Dritter Ort.
Im urbanen Raum ist derzeit eine Hinwendung zur Rückeroberung öffentlicher Räume durch die Bürgerschaft und zum Direktkauf von Lebensmitteln bei Erzeugern der Region zu beobachten. Das verändert die Nachbarschaft und das Engagement für das eigene Umfeld nachhaltig. Wäre ich Bürgermeisterin – und interessanterweise sehe ich mich da stets im ländlichen Raum -, würde ich von alldem lernen wollen und den Kontakt herstellen. Ich würde die Menschen, die sich in solchen Projekten engagieren, besuchen und einladen, um mit und von ihnen zu lernen.
Ein jährliches Barcamp im Ort
Wie wäre es mit einem jährlichen Barcamp für den Ort? Eine themenoffene Unkonferenz, deren Programm von den Teilnehmer*innen selbst gestaltet wird. Ein Barcamp ermöglicht den hierarchie- und generationenübergreifenden Austausch von Wissen und Erfahrungen. Fragen und Themen werden sichtbar, die anderen vielleicht noch nicht bewusst waren. Ein Barcamp setzt oft Energien für gemeinsame Aktionen und Projekte frei.
Eine geschickte und sachkundige Verlängerung des Ortes ins Digitale vermag nicht nur die Gemeinschaft zu stärken, sondern auch die Sichtbarkeit eines Ortes nach außen. Im digitalen Raum lassen sich so Verbündete aus anderen Regionen oder in direkter Nachbarschaft finden – Offenheit und strategisches Denken vorausgesetzt. Das macht man nicht alles „so nebenbei“ und erfordert politische Entscheidungen über Richtung und Budgets, also originäre Aufgaben für Bürgermeister*in und Stadtrat.
Mein Eindruck ist, dass es zwar oft einen Austausch auf gleicher Hierarchieebene gibt, aber noch zu selten den Austausch über Hierarchien und Generationen hinweg. Hier und da begegne ich Ausnahmen. So verfolge ich etwa interessiert das Projekt Digitale Dörfer, insbesondere, was Betzdorf daraus macht. Dann bekam ich mit, dass sich ein Netzwerk junge Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gegründet hat. Wäre ich Bürgermeisterin: Ich wäre dabei und würde mich mit den Gemeinden vernetzen, die schon einen Schritt weiter sind.
Vernetzen – digital und offline
Wenn ich also Bürgermeisterin wäre, würde ich all das ausschöpfen, was ich in Jahren digitaler und dadurch auch nicht-digitaler Vernetzung gelernt habe: Die eigene Identität klären und wissen, wofür man steht, sich klug vernetzen, wissen, wer was weiß und kann, hilfsbereit und offen sein, rausgehen und sich auf Gedanken und Ideen anderer einlassen, Inspiration außerhalb der eigenen Netzwerke suchen, Inspiration und Ideen weitertragen, digitale und nicht-digitale Orte miteinander verbinden.
Mir ist durchaus bewusst, dass eine von Idealismus getragene Vision selten konkrete und aktuelle Probleme der Gegenwart löst. Aber ich habe am Beispiel des eingangs erwähnten Dorfs erlebt, wie sich in dreißig Jahren eine Vision auf einen Ort ausgewirkt hat und wie sich dies erheblich auf die jetzige Gegenwart ausgewirkt hat. Ein Prozess, der viel Hartnäckigkeit und Zähigkeit erforderte, der aber stets getragen wurde von einem Blick in eine Zukunft, die heute Gegenwart ist.
Lesen Sie aus der Reihe „Wenn ich Bürgermeister*in wäre…“ auch:
Wenn ich Bürgermeister wäre: Meine Vision eines Dritten Ortes
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