Irgendwo im Nichts liegt der Hof Viehbrook – im Vorbeifahren betrachtet ein Holsteiner Bauernhof in Alleinlage, weit draußen auf dem Land, wie viele andere. Und doch wird hier Zukunft gemacht: Auf Viehbrook gibt es einen kleinen Kaufmannsladen, eine Kita und einen Coworking-Space. Dazu ein Restaurant-Café, eine Kochschule und Ferienapartments. Es ist ein privat organisiertes Angebot, das einen großen Teil dessen, was in Zukunft Daseinsvorsorge auf dem Land bedeuten wird, abbildet, und damit ein Vorreiter für die Digitalisierung des ländlichen Raums.
Denn bisher sind hier die Versprechen der Digitalisierung noch nicht angekommen. Während heute eigentlich viele Menschen dort arbeiten könnten, wo sie leben, und so Pendelzeit, Benzin und Nerven sparen könnten, treibt in der Realität die Digitalisierung die Landflucht voran – die Menschen zieht es in die Metropolen, dort scheinen die guten Jobs, das gute Leben zu warten. Ein Teufelskreis – denn gleichzeitig nimmt in Berlin, Hamburg oder München der Wohnraumdruck immer weiter zu, so dass dieselben Menschen wieder aus der erträumten Urbanität vertrieben werden, hinausgequetscht ins Nirgendwo jenseits der S-Bahn-Ringe, in die toten Schlafsiedlungen der Speckgürtel. Dort wartet das schlechteste aus beiden Welten.
Der Hof Viehbrook zeigt, dass es anders geht, wenn die Angebote geschaffen werden. Die Dörfler*innen können hier zu Fuß zur Arbeit gehen, ihre Kinder nebenan zur Kita bringen, auf dem Nachhauseweg noch das nötigste im Hofladen kaufen. Gleichzeitig bietet der mit Glasfaser angebundene Coworking-Space auch ein soziales Umfeld, Kolleg*innen, mit denen man über Berufliches, aber auch über den neuesten Dorfklatsch klönen kann.
Hof Viehbrook: Spannendes Angebot für Familien
Gerade für junge Familien in den Städten ein spannendes Angebot, denn die Idee, weiter hinauszuziehen, in ein naturnahes Umfeld, haben viele. Allein die Angebote, die die meisten Gemeinden ihnen machen, entsprechen nicht mehr ihren Erwartungen. Denn die potenziellen Stadtflüchtlinge von heute träumen nicht mehr vom freistehenden Einfamilienhaus im Neubaugebiet. Andere, gemeinschaftlichere und urbanere Wohnformen als im letzten Jahrtausend sind gefragt. Gibt es die, wird das Dorf wieder zu dem, was es vor hundert Jahren einmal war: Arbeits- und Lebensmittelpunkt für seine Bewohner*innen. Nur dass viele eben ganz andere Hintergründe und Berufe haben als damals.
Die Vision einer anderen, nachhaltigen Urbanisierung
Eigentlich bietet Viehbrook damit alles, was auch ein Kiez in Berlin-Friedrichshain bietet: Wer hier nebenan wohnt, kann alles Alltägliche zu Fuß erledigen und braucht tagelang den Ort nicht verlassen – vielleicht zum Großeinkauf, vielleicht mal ins Theater, vielleicht mal zum Meeting ins Büro. Dabei ist Viehbrook kein hipper Ort für Städter – die werden sich hier wohl fühlen, genauso aber Menschen, die schon immer im Dorf leben. Diese Form der kulturellen Offenheit in alle Richtungen ist wichtig, damit wirklich neue Gemeinschaftsorte und keine dysfunktionalen urbanen Außenposten entstehen.
Was würde passieren, wenn es nicht einen Hof Viehbrook, sondern hunderte gäbe? Was für einen Wandel auf Stadt und Land würden wir erleben, weg von der schädlichen Pendelei und hin zu besserer Vereinbarkeit, Dörfern voller Leben, einem naturnahen, entspannten Leben? Könnte in Zeiten, in denen drohende Fahrverbote Stadtgesellschaften spalten, die Vermeidung von Mobilität – statt ihrer Umorganisation – die Lösung der Probleme sein? Was, wenn die Digitalisierung so einen anderen, nachhaltigeren Pfad des Megatrends Urbanisierung möglich macht?
Während in anderen Europäischen Staaten wie England und Frankreich die Konzentration des gesellschaftlichen Lebens auf die Ballungsräume London und Paris zu einer scharfen Stadt-Land-Spaltung geführt hat, ist dieser Trend im traditionell föderal und mittelständisch geprägten Deutschland noch nicht voll durchgeschlagen. Es gibt daher ein Zeitfenster zum Umlenken – einerseits ist die Digitalisierung entfaltet, andererseits die Urbanisierung aber noch nicht durchmarschiert.
Städter finden urbanen Lifestyle
Wenn wir durch dieses Fenster schauen, wird eine Zukunft sichtbar, in der die Fläche zwischen den großen Städten gefüllt ist mit Leben, Arbeit und Kultur, mit ehemaligen Städtern, die hier leben, ohne auf ihren urbanen Lifestyle zu verzichten. Die Metropolen sind für sie temporäre Orte, die sie nur aus bestimmten Anlässen aufsuchen, für ganz bestimmte Erlebnisse und Services. Um einmal im Monat in die Elbphilharmonie zu gehen, muss man nicht in Eppendorf wohnen.
Neue Arbeitsorte auf dem Land wie auf dem Hof Viehbrook sind ein wichtiger Teil dieser Vision. Sie bringen Menschen zusammen, erschaffen Netzwerke, die wieder Innovation und Gemeinschaft aufs Land bringen. In dem Moment, wo ein Coworking-Angebot vorhanden ist, werden ländliche Regionen für Stadtflüchtlinge und Rückkehrer*innen spannend. Für sie ist es ein Teil der Daseinsvorsorge: Netflix bekomme ich über schnelles Internet, Zugang zu einer Gemeinschaft von „likeminded people“ nicht. Dafür braucht es eine andere, ebenso moderne Infrastruktur. Coworking-Spaces sind diese Infrastruktur. Wie das Glasfaserkabel das Entertainment liefert, liefern sie Zugang zur Community, zu Inspiration und Teilhabe am Summen der Welt.
Coworking für breitere Zielgruppe
Dabei ist Coworking auf dem Land ganz anders als in der Stadt – dort ist Raum knapp, auf dem Land nicht. Hier sind Menschen knapp. Und die, die hier sind, suchen daher: andere Menschen. Eben die Community, wie es in der Sprache der Coworker*innen heißt. Darum hat Coworking auf dem Land eine viel breitere Zielgruppe als in der Stadt, weil es mehr Menschen ganz direkt nützt. Es sind nicht nur ITler, Kreative, Freiberufler oder StartUps, es ist die ganze Breite der Gesellschaft.
Die @coworkland -Genossenschaft hat sich gegründet und heute Ihr Netzwerktreffen Nord auf Hof Viehbrook gefeiert! Ein Raum voller CoWorking-Spirit. Das ist die Zukunft des Landlebens, hier fängt Wandel an. #coworking #newwork #beyondglasfaser pic.twitter.com/P1FQavogbs
— ulrich bähr (@ubaehr) February 18, 2019
Im „Alten Heuboden“ in Felde, der aus einer Segelmacherei hervorging, war die allererste Coworkerin eine Schneiderin aus dem Ort. Heute sitzt sie neben einem Ingenieur, der von dem Dörfchen bei Kiel aus für die NASA arbeitet. Es sind neue, sehr inklusive Gemeinschaftsorte für die Dörfer, ein wenig „Freiwillige Feuerwehr 2.0“. Sie sind auch Chancen, Orte auf dem Land zu erhalten, die sonst verschwinden würden. Dann muss die Bank vielleicht nicht schließen, sondern kann sich für neue Nutzungen öffnen – für alles, was fehlt. Und so kann Coworking auf dem Land zugleich eine Lösung für die wegbrechende Infrastruktur im ländlichen Raum sein. Im Gegensatz zur Stadt ist „Rural Coworking“ also kein abgegrenztes Geschäftsmodell, es ist fast immer ein ganz individueller Hybrid aus mehreren Nutzungen.
Innovative Korallenriffe, auf denen sich vieles ansiedeln kann
Im „Tokunfthus“ in der Gemeinde Bücken an der Weser gibt es darum extra Freiraum für PopUp-Stores, also für Menschen, die testweise ein neues Ladenkonzept ausprobieren wollen. Anfang 2020 hat hier zum Beispiel der erste „Unverpackt“-Laden in der Region eröffnet. Dieser kommt gut an, weil hier sowieso schon Menschen sind, die in die gleiche Richtung denken: Innovation zieht Innovation an.
Man kann also das eigentliche Coworking – die Vermietung von Arbeitsplätzen – betrachten wie in der Ökologie ein Korallenriff: Es ist eine Basiskultur – ist sie erstmal da, bietet sie Raum für anderes, spezialisiertes Leben: Seeannemonen, Clownsfische, Barracudas. Coworking bietet einen zuverlässig geöffneten und betreuten Ort, und es bietet eine Kultur der Offenheit und Inklusion. Hier kann sich vieles ergänzend ansiedeln und ganze Orte wieder zum Leben erwecken, aus Donuts wieder Berliner werden lassen.
Diese „hybriden Orte“ sind eine große Chance für das Land jenseits der gut versorgten Speckgürtel. Sie schaffen eine Grundversorgung, halten die Menschen im Ort, und damit Kundschaft für weitere Angebote vom Café bis zum öffentlichen Nahverkehr. Und sie schaffen selbst Arbeitsplätze: Der Hof Viehbrook arbeitet rentabel und ist der größte Arbeitgeber der kleinen Gemeinde. Die Kita-Gruppe ist Anfang 2020 gerade ein halbes Jahr alt, und schon muss eine Erweiterung geplant werden.
Coworking: Einzelne Akteur*innen machen den Anfang
Das zeigt eine zweite Stärke dieser Orte: Sie stellen eine neue, den ländlichen Raum stärkende Infrastruktur dar, die aber nicht wie Straßen oder ÖPNV zentral und mit immensem Planungsaufwand vom Staat errichtet werden muss. Sie entstehen dezentral, graswurzelig, aus dem Engagement einzelner Akteur*innen heraus, in Anpassung an konkrete Bedarfe ihrer Umgebung. Das macht sie flexibel, resilient und schnell.
Die Gründer*innen sind engagierte Raumpionier*innen, die an ihrem Ort mit ihren Ideen meist erstmal allein sind. Um dennoch eine Stimme zu haben, am Markt sichtbar zu sein, gemeinsam zu lernen und neuen Mitstreiter*innen den Start zu vereinfachen, haben sich viele von Ihnen zur CoWorkLand-Genossenschaft zusammengetan. Der genossenschaftliche, gemeinwohl-verpflichtete Gedanke passt perfekt zur Grundhaltung der Gründer*innen, deren Motivation nicht im Profitstreben besteht, sondern darin, im ländlichen Raum eine Welt zu schaffen, in der sie mit anderen Gleichgesinnten nachhaltig leben können.
Titelfoto: Kirsten Voß-Rahe
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Ich glaube nicht, dass ich (lebe seit über 30 Jahren auf dem Land, far out) möchte, dass Leute aus den Städten auf die Dörfer kommen und dort alles so lange umändern und durcheinanderrühren, bis es dort so ist wie in Friedrichshain. Dann könnte ich auch in Friedrichshain wohnen. Landleben besteht vor allen Dingen aus MENSCHEN und daraus, wie sie zusammenleben. Und nicht nur aus schöner Landschaft und schnuckeligen Tieren. Dorf ist viel mehr als eine Kulisse für Großstädterträume vom „einfachen Leben“. Das müssen die Großstädter erstmal kapieren. Dann reden wir über ihre Ideen – und über unsere! Und dann sind sie herzlich willkommen.
Lieber Herr Römer, das sehen wir sicher beide so. Allerdings „gehören“ ja weder die Stadt noch der ländliche Raum jemanden, so dass es natürlich weniger die Frage ist, ob da Menschen in die Städte oder aufs Land ziehen oder nicht, sondern vor allem mit welcher Haltung dies geschieht. Zumal: Die Unterteilung aus Städtern und Landmenschen ist ja auch schwierig, die meisten Bewohner des zitierten Friedrichshain sind wohl irgendwo auf dem Land aufgewachsen. Und daher wird es immer vieles geben – schon jetzt nehmen ja viele der Menschen, die in die Neubaugebiete der Speckgürtel ziehen, nicht am Dorfleben teil. Andererseits gibt es viele, die mit ihren Sehnsüchten aufs Land kommen, die sich dort stark und offen in Prozesse zur gemeinsamen Gestaltung des Landlebens einbringen. Es wird immer mehr Menschen geben, die rausziehen, und da gilt es für alle Beteiligten sich bewusst und offen für eine gemeinsame Entwicklung zu engagieren, um Gutes zu erhalten und Gutes neues zu befördern. Darum bemühen wir uns als Initiative stark, und die meisten der Gründer*innen, die diese neuen Orte aufbauen, sind übrigens keine Zugezogenen, sondern „von hier“.
Das Folgende ist ein sehr interessanter Artikel, denn er belegt etwas, was ich seit Jahren überall predige: Es ist nicht etwa so, dass LEERSTAND ein Problem in kleinen Dörfern auf dem platten Land wäre. Leerstand und Schrottimmobilien sind die Hinterlassenschaften von Strukturwandel im Gewerbe, vor allem im Einzelhandel (und in ländlichen Regionen in der Landwirtschaft, natürlich) und im Dienstleistungsbereich, von dem die Orte betroffen sind, wo genau diese Infrastrukturen seit Jahrzehnten ausgedünnt werden und sterben. Das ist offenbar, und das zeigt der Beitrag sehr anschaulich, vollkommen unabhängig davon, ob es sich um Stadt oder Land handelt, und erst recht hat es nichts mit einem „demografischen Wandel“ zu tun. Hoffentlich gelingt es irgendwann, dieses letztere Dogma zu überwinden.
https://www.weser-kurier.de/region/die-norddeutsche_artikel,-gegen-leerstand-und-schrottimmobilien-in-blumenthal-_arid,1917133.html?utm_campaign=WESER-KURIER&utm_medium=post&utm_source=Facebook&fbclid=IwAR1LeK3rnj-2WZcfySK-Iqch24qaju4vBB9As-syvnqU4uIn7DCtxAb8qNA
Lieber Herr Römer, danke für diesen guten Hinweis. Stimmt, Leerstand ist in den alten Bundesländern auf dem Land nur regional ein Problem, flächendeckend allerdings in den neuen Ländern. Wobei es auch dort – ich weiß es z.B. aus der Altmark – genau zu dem Problem kommt, dass Erben, auf die Immobilien im Osten gekommen sind, diese nicht verkaufen können und auch nicht sanieren wollen, und diese dann verfallen. Auch hier wird daher das von Ihnen angesprochene Rotterdamer Modell diskutiert – das würde allerdings Kommunen voraussetzen, die finanziell handlungsfähig genug sind, und da unterscheiden sich Rotterdam und die Altmark leider erheblich.