Ein Roboter reicht einer pflegebedürftigen Frau, die an der Bettkante sitzt, ein Handtuch.
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Şirin Tiryaki
19. May 2021

Pflege 4.0 in Dänemark: Kommunen und Pflegepraxis arbeiten eng zusammen

Der fortschreitende demografische Wandel in vielen Kommunen rückt das Thema Pflege immer mehr in den Fokus. Kommunen und Pflegeeinrichtungen können beim Einsatz von Technologie in der Pflege so zusammenarbeiten, dass ein Mehrwert für alle Beteiligten geschaffen wird. Das zeigt das Beispiel Aabenraa. Dänemark belegt Platz 3 beim Index für digitale Wirtschaft/Gesellschaft und Platz 3 beim Digital-Health-Index – das Land hat schon längst eine nationale Digital-Health-Strategie umgesetzt. Beim Thema „zukunftsfähige Pflege“ agieren Pflegeeinrichtungen und Kommunen Hand in Hand.

Ein Gespräch mit Kolleg:innen, die Planung der Schicht und Vorbereitung des Arbeitsplatzes – diese drei Punkte stehen zu Beginn jeder Nachtschicht in der Pflegeeinrichtung Lergården an. Darauf folgt die digitale Prüfung der Inkontinenzmaterialien der Bewohner:innen. Digital bedeutet in diesem Fall, dass die Pflegekraft die Informationen aus den Sensoren abruft, die an den intelligenten Windeln befestigt sind. Ist ein gewisser Füllstand erreicht, wechselt die Pflegekraft sie. Hinzu kommt die Kontrolle der Bewegungssensoren, die Auskunft darüber geben, ob die Bewohner:innen schlafen oder womöglich das Bett verlassen haben. Bei Bedarf schaut die Pflegefachkraft nach, ob es den Bewohner:innen gut geht.  Der Arbeitsablauf wiederholt sich insgesamt dreimal in einer Nacht.

In Interviews gaben Pflegekräfte aus Lergården an, dass sie durch den Einsatz innovativer Pflegetechnologien deutlich entlastet werden. Mit Pflegetechnologien sind unter anderem intelligentes Inkontinenzmaterial, Sturzdetektoren, ein GPS-basiertes Ortungssystem eine Rufanlage sowie ein digitales Dokumentationssystem mittels mobiler Endgeräte gemeint. Diese Technologien entzerren den Arbeitsalltag, weil die Pflegenden beispielsweise direkt vor Ort bei den Pflegeempfangenen dokumentieren können, nicht mehr den Eindruck haben, überall gleichzeitig sein zu müssen, und – etwa durch die Vorbeugung von Stürzen – zeitintensive Behandlungen von Verletzungen reduziert werden können. Statt Routinegänge in regelmäßigen Abständen durchführen zu müssen, handeln die Pflegekräfte eher anlassbezogen: Wenn sie gebraucht werden, sind sie vor Ort.

Wie groß die potenziellen Entlastungseffekte durch innovative Pflegetechnologien sind,  hat die Studie „Potenziale einer Pflege 4.0“ des Projekts  Demografieresilienz und Teilhabe der Bertelsmann Stiftung anhand von Praxisbeispielen im In- und Ausland untersucht. Hierfür wurden Interviews u.a. mit Pflegefachkräften in sieben Pflegeeinrichtungen in vier Ländern durchgeführt. Dabei hat sich gezeigt, dass der erfolgreiche Einsatz unterschiedlicher Pflegetechnologien in Dänemark an eine enge Zusammenarbeit mit der Kommune geknüpft ist.

Die Kommune als vertrauenswürdiger Partner

Wenn es in der Pflegeeinrichtung Lergården um die Einführung einer neuen Technologie geht, kommen die Vorschläge immer häufiger direkt von den Pflegekräften selbst und werden an die Kommune Aabenraa weitergeleitet. Diese schätzt die Effekte ab, betrachtet das technisch Mögliche und hilft der Pflegeeinrichtung bei der Einführung. Im Sozial- und Gesundheitsamt der Kommune sind hierfür Mitarbeiter:innen angestellt, die sich vornehmlich mit Wohlfahrtstechnologien, Technologien für betreutes Wohnen und digitaler Gesundheit beschäftigen. Für neue Trends gibt es einen „Technikradar“. Hier werden neue Technologien beobachtet, in überkommunalen Netzwerken diskutiert und Angebote von Herstellern sondiert. Die befragten Mitarbeiter:innen der Kommune berichten, dass durch den regelmäßigen Austausch mit anderen Kommunen, Herstellern und Vertreter:innen der Pflegepraxis verschiedene Perspektiven, vielfältiges Wissen und Erfahrungen eingebracht und der Technologieeinsatz so umgesetzt werden könne, dass er einen Mehrwert für alle Beteiligten schafft. Für die Implementierung hat die Kommune ein Vorgehensmodell entwickelt. Die Abteilung Soziales und Gesundheit genehmigt alle Technologieeinführungen und -projekte zu drei Zeitpunkten: 1. zu Projektbeginn auf der Grundlage einer prospektiven Nutzenabschätzung, 2. nachdem in kleinen Pilottestungen Erfahrungen gesammelt wurden sowie 3. nach dem Ausrollen der Technologie in einer Einrichtung. Die Technologien werden einmal im Jahr evaluiert.

Für das Eintreten von Entlastungseffekte sind bestimmte Voraussetzungen notwendig. Dazu gehören unter anderem die Partizipation des Pflegepersonals bei der Technologieauswahl, Schulungen im angemessenen Umfang und das Vertrauen aller Beteiligten in die digitale Entwicklung. Die Devise in Aabenraa lautet, dass hierfür die Technologien zugänglich und nutzbar sein müssen. Um diese Voraussetzungen zu fördern, arbeitet die Kommune bei der Auswahl der Pflegetechnologien mit folgenden Hauptkriterien: Pflegetechnologien müssen erstens sinnvoll sein und einen Wert für alle Beteiligten bieten, zweitens nicht als Ziel an sich gesehen werden sondern als Werkzeug dienen und drittens immer an die Bedürfnisse der Pflegeempfangenden und die Situation angepasst werden – niemals umgekehrt. Zeiteinsparungen sollen dementsprechend für die Verbesserung der Pflegequalität, Kommunikation oder Workflowgestaltung genutzt werden.

Zukunftsfähig durch eine nationale und regionale Strategie

Als sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat stellt Dänemark allen Bevölkerungsgruppen umfangreiche soziale Leistungen zur Verfügung – so auch in der Pflege. Während die nationale Ebene die legislativen Rahmenbedingungen setzt, sind die rund 98 Kommunen für die Bereitstellung und Organisation der (teil-)stationären und ambulanten Pflegeleistungen zuständig. Finanziert wird die Pflege fast ausschließlich über ein aus Steuermitteln finanziertes kommunales Budget. Die dänische Regierung hat eine Digital-Health-Strategie erarbeitet, die digitale Lösungen in den Bereichen Gesundheit, Altenpflege und Behindertenbetreuung als festes Ziel der Politik vorantreibt. So wurde beispielsweise ein Zentrum für Wohlfahrtstechnologie eingerichtet, das sich mit verschiedenen Technologien und ihrer Anwendung befasst.

Das Beispiel der Pflegeeinrichtung Lergården zeigt, dass die enge Anbindung an die Kommune den erfolgreichen Technologieeinsatz wesentlich befördert. Daraus resultieren bemerkenswerte Entlastungseffekte, die  in Pflegesystemen weltweit dringend gebraucht werden. Das gilt auch für Deutschland, wo der fortschreitende demografische Wandel und die belastenden Arbeitsbedingungen in der Pflege den Pflegenotstand vorantreiben. Dänemark macht vor, wie eine enge regionale Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Pflegepraxis die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in der Pflege erfolgreich adressieren können.

 

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Potenziale einer Pflege 4.0
Potenziale einer Pflege 4.0
Demografische Trends und strukturelle Probleme stellen das Pflegesystem vor fundamentale Herausforderungen. Technologische Innovationen bieten die Chance, Pflegekräfte zu entlasten und eine qualitativ hochwertige Pflege sicherzustellen.
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